Die Kieferorthopädie gehört zu den zahnmedizinischen Fachgebieten. Sie befasst sich mit Fehlstellungen der Zähne und der Kiefer zu ihrer Entstehung, der Vorbeugung, Diagnostik und Therapie. Ziel der kieferorthopädischen Behandlung ist es, die Funktion von Zähnen und Kiefer wieder herzustellen. Dabei werden auch ästhetische Aspekte berücksichtigt. Denn in der Regel gehen Fehler in der Funktion mit Beeinträchtigungen des Aussehens einher.
Mundgesundheit, Allgemeingesundheit und Lebensqualität sind untrennbar miteinander verbunden. Erkrankungen des Kauorgans, also der Zähne, Kiefer, Kiefergelenke und Kaumuskulatur, können die Allgemeingesundheit direkt beeinträchtigen, indem sie Schmerzen und Leid verursachen, die Nahrungsaufnahme bzw. Nahrungswahl beeinflussen, das Sprechen erschweren und somit das Wohlbefinden und die Lebensqualität reduzieren. Erkrankungen des Kauorgans können sich aber auch indirekt auf die Allgemeingesundheit auswirken – vielfältige Zusammenhänge mit chronischen Erkrankungen sind bekannt (z. B. Diabetes, Herzerkrankungen, Schlaganfall).
Zahn- und Kieferfehlstellungen können neben Karies und Zahnfleischentzündungen am häufigsten die Mundgesundheit beeinträchtigen. Durch eine kieferorthopädische Behandlung können sie korrigiert und mögliche funktionelle Folgen beseitigt oder verhindert werden. Deshalb ist die Betrachtung von Zahn- und Kieferfehlstellungen im Hinblick auf eine zahnmedizinische Versorgung der Bevölkerung als auch für die Prävention essenziell.
Die Behandlung von Zahn- und Kieferfehlstellungen ist Aufgabe des Fachgebietes Kieferorthopädie und umfasst Erkennung, Verhütung und Behandlung von Fehlbildungen des Kauorganes, Zahnstellungs- und Bissanomalien, Kieferfehlbildungen und Deformierung der Kiefer und des Gesichtsschädels im gesamtmedizinischen Kontext. Fachzahnärzte für Kieferorthopädie sind durch eine vierjährige Weiterbildung für dieses Fachgebiet spezialisiert.
Im Idealfall passen die Zähne von Ober- und Unterkiefer perfekt zusammen. Abweichungen vom Ideal können einzeln als auch in Kombination von Zahn- und Kieferfehlstellungen vorkommen. Zu den häufigsten Abweichungen gehören Breitendiskrepanzen (z. B. Kreuzbisse) und Längendiskrepanzen (z. B. Distalbisse oder Mesialbisse) sowie Störungen im Durchbruch oder in der Einstellung einzelner bzw. mehrerer Zähne.
Die Ursachen für Zahn- und Kieferfehlstellungen sind multifaktoriell. Dabei spielen genetische, epigenetische, funktionelle und umweltbedingte Faktoren eine Rolle. Auf individueller Ebene ist der ätiologische Hintergrund meist nicht eindeutig feststellbar [6, 7].
Während sich genetische und epigenetische Faktoren durch eine kieferorthopädische Behandlung nicht primär therapeutisch beeinflussen lassen, besteht bei funktionellen Faktoren (z. B. Fehlfunktionen der Zungen‑, Lippen‑, Wangen- und Kaumuskulatur) und umweltbedingten Faktoren (z. B. vorzeitiger Verlust von Milch- oder bleibenden Zähnen, Zahntraumata) die Chance auf eine kausale oder präventive Therapie. Die Prognose für den Behandlungserfolg bei Zahn- und Kieferfehlstellungen sowie die Stabilität der Ergebnisse ist bei überwiegend funktionellen bzw. umweltlichen Ursachen besser als bei einem genetischen Hintergrund. Daher setzt eine präventionsorientierte Kieferorthopädie eine frühzeitige Erkennung aller funktionellen und umweltbedingten Faktoren voraus, die das kraniofaziale Wachstum und die Gebissentwicklung negativ beeinflussen können [8].
Zahn- und Kieferfehlstellungen sind häufig und gehören, wie bereits oben erwähnt, neben Karies und Gingivitiden zu den häufigsten Mundgesundheitsbeeinträchtigungen des Menschen [3]. Ihre Häufigkeit weist globale Schwankungen auf [4]. Aktuelle bevölkerungsrepräsentative Daten für Kinder und Jugendliche aus Deutschland fehlen, denn Zahn- und Kieferfehlstellungen wurden zuletzt im Jahr 1989 im Rahmen der ersten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS I) erfasst [9]. Gemäß kleinerer Querschnittstudien aus verschiedenen Bundesländern weisen bis zu 80 % der untersuchten Kinder Zahn- und Kieferfehlstellungen auf [10–13]; ein objektiver Behandlungsbedarf besteht in 41–52 % der Fälle [11, 12].
Zahn- und Kieferfehlstellungen können das Essen, Trinken, Kauen, Sprechen und die Atmung direkt beeinträchtigen, weil sie u. a. den Kontakt und die Gleitbewegungen zwischen den Zähnen von Ober- und Unterkiefer, z. B. in Form von Zwangsführungen oder durch eine falsche Lage der Kiefer zueinander stören, den Mundschluss beeinträchtigen oder die Lautartikulationszonen verändern. Ferner können sie Überlastungsschäden des Kiefergelenks und/ oder der Kaumuskulatur bedingen und somit auch indirekt das Essen, Trinken, Kauen, Sprechen und die Atmung beeinträchtigen. Nicht zuletzt können Zahn- und Kieferfehlstellungen negative psychosoziale Folgen haben, die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität verringern oder, bei umfangreicher Ausprägung, zu Mobbing in der Schule führen.